Portrait of Bernard Perritaz
echo-Interview, November 2021

Die Diversifikation unseres Rentensystems schafft Vorteile

ELIPSLIFE ECHO - EINE GESPRÄCHSSERIE MIT PERSÖNLICHKEITEN AUS WIRTSCHAFT UND POLITIK

echo-Interview mit Bernard Perritaz

echo-Interview mit Bernard Perritaz, Mitglied der Geschäftsleitung Kessler & Co AG (Leitung Westschweiz)

elipsLife echo: Die Digitalisierung stellt in der Versicherungsbranche gerade Vieles auf den Kopf. Wie geht Kessler als eines der führenden hiesigen Broker-Unternehmen in der Versicherungs- und Vorsorgeberatung das Thema an?
Bernard Perritaz:
Kessler versteht die Digitalisierung in erster Linie als Chance, das Thema hat grosse Priorität. Als Berater und Vermittler zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer hilft uns alles, was der Beschleunigung, Verbesserung und Vereinfachung der Prozesse und der Datenqualität dient. Entsprechend haben wir viel in die Digitalisierung investiert, auf Unternehmens- wie auf Branchenebene. Die Digitalisierung betrifft die Assekuranz allgemein, ganz besonders aber die Pensionskassen: Versicherte und Arbeitgeber wollen heute digital kommunizieren – da müssen wir ganz einfach bereit sein. 

Welche Aspekte stehen dabei im Vordergrund?
Auf Branchenebene geht es vor allem darum, eine technische Infrastruktur auf die Beine zu stellen, vergleichbar mit dem Six-System der Banken. Leider ist zu sagen, dass die Versicherungsbranche in der Schweiz in Sachen Digitalisierung alles andere als Spitze ist. Verglichen mit einem Land wie Belgien, das wie die Schweiz stark exportorientiert ist, liegen wir 20 Jahre zurück. Der Grund ist einfach: Der Schweizer Markt fokussierte viel zu lange auf den eigenen Vertrieb, in den Händen von allgemeinen Versicherungsagenturen, und war zudem stark geschützt. Es bestand also wenig Notwendigkeit, die Effizienz zu steigern und kein Wettbewerb. Das wollen wir ändern, zum Beispiel mit EcoHub (eine Online-Plattform für den Versicherungs-, Vorsorge- und Brokermarkt, Anmerk. d. Red.) sowie Unternehmen wie Sobrado.

Welches sind – nebst der Digitalisierung – die grössten Herausforderungen im Brokermarkt?

Seit rund zwei Jahren sind wir in einem harten Markt. Und Covid hat die Rahmenbedingungen abermals schwieriger gemacht. Wir müssen heute in allen Bereichen kämpfen, um gute Konditionen für unsere Kunden zu erzielen. Zudem herrscht im Brokermarkt ein starker Konkurrenzkampf. Im Augenblick erleben wir eine Konzentrationswelle, es kommt zu bedeutenden Übernahmen. Kessler ist in dieser Hinsicht sehr zurückhaltend. Wir setzen auf organisches Wachstum. Wir wollen unsere Kunden und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht kaufen, sondern durch Leistungen überzeugen. Die dritte grosse Herausforderung ist der Mangel an Fachpersonal. Wie vielen anderen Branchen auch, fehlt der Assekuranz gut qualifiziertes Personal. 

Auch wenn Corona zurzeit alles überschattet, die Altersvorsorge ist die grösste Sorge der Schweizerinnen und Schweizer. Seit Jahren müht sich die Politik mit dem Thema ab, als letztes hat der Ständerat im Rahmen der AHV-Revision die Erhöhung des Frauen-Rentenalters auf 65 Jahren beschlossen. Wie stehen Sie dazu?

Für mich ist die Angleichung des Rentenalters eine Selbstverständlichkeit. Das ist richtig und nötig. Selbstverständlich müssen die Gleichstellungs- und Kompensationsfragen gelöst werden, aber es gibt heute keinen Grund mehr, unterschiedliche Rentenalter zu haben. Ich bin davon überzeugt, dass die Stimmbevölkerung reif ist für diesen Schritt.

Portrait of Bernard Perritaz while he is discussing

Was braucht es konkret, damit die AHV-Reform an der Urne bestehen kann?
Es gibt einen politischen und einen technischen Aspekt. Aus politischer Perspektive braucht es die Unterstützung von drei der vier Bundesratsparteien. Aus technischer Sicht darf die Reform nicht zu einem Leistungsabbau führen. Deshalb muss die Erhöhung des Frauenrentenalters – wie erwähnt – kompensiert werden. 

Der Bundesrat will die 2. Säule mit einem tieferen Umwandlungssatz und der Kompensation der Rentenausfälle via Lohnprozente sanieren. Viele lehnen die Umverteilung in der 2. Säule als systemfremd ab. Geben Sie der bundesrätlichen BVG-Vorlage eine Chance?
Nein, das Vorhaben wird weder richtig unterstützt noch richtig verstanden. Ich möchte aber festhalten, dass auch die 2. Säule Solidaritätselemente und Umverteilung kennt. Die Risikoprämien oder Langlebigkeit enthielten schon immer eine gewisse Umverteilung, ausserdem gibt es in der Geschichte der 2. Säule Sondermassnahmen, die sehr wohl dem Solidaritätsgedanken geschuldet waren. Heute ist die Gesellschaft allerdings viel stärker individualisiert, Giesskannenkonzepte haben keine Chance mehr. Eine allgemeine Umverteilung hat auch deshalb einen schweren Stand, weil lediglich rund 15% der Versicherten, jene mit den tiefsten Einkommen, von einer Senkung des Umwandlungssatzes wirklich betroffen wären. 

Wie hoch sollte heute der Umwandlungssatz für den obligatorischen Teil aus Ihrer Sicht sein?
Ich werde jetzt ein bisschen provokativ sein. Da der Umwandlungssatz im obligatorischen Teil nur für 15% der Versicherten massgebend ist, kann dieser unverändert bei 6,8% belassen werden. Warum? Die Tieflohnbranchen gehören praktisch allesamt zu den Branchen mit einer vergleichsweise tiefen Lebenserwartung. Zwischen der Lebenserwartung eines Professors oder Bankers und jener eines Bauarbeiters liegen Jahre. Darüber hinaus sind die Risikoprämien der PKs in vielen Tieflohnbranchen höher als bei Bürojobs. Weshalb also nicht dem schlechter gestellten Bevölkerungsteil ein höheres Minimum garantieren? Rein technisch gesehen müsste der Umwandlungssatz heute wohl bei 5 oder 5,5 % sein. Eine Senkung auf dieses Niveau ist politisch aber nicht vertretbar. 

Welche spezifische Rolle können Broker bei der Betrieblichen Vorsorge spielen?
Broker sind wichtige Akteure bei der Beratung vor allem der KMUs. Sie begleiten Unternehmen bei der Lösung von Vorsorge-Fragen und beraten ihre Kunden sowohl auf Ebene Arbeitnehmerschaft wie auch auf Ebene Pensionskassen-Gremien und Geschäftsleitung. Alle Broker müssen heute bei der FINMA registriert sein, doch das reicht bei Weitem nicht aus, um den Bedürfnissen der Kunden im Umgang mit den komplexen Vorsorge-Fragen gerecht zu werden. Die Broker Verbände SIBA und ACA, zusammen mit der IAF1), haben nicht von ungefähr einen neuen Lehrgang für Pensionskassen-Beratung ins Leben gerufen. Diesen November schliessen die ersten 100 Absolventinnen und Absolventen diesen Lehrgang ab. 

Die Pensionskassen sind in ihren Anlagestrategien durch den Regulator stark eingeengt. Brauchen die Kassen angesichts des wirtschaftlich schwierigen Umfelds mehr Freiheiten?
Nein, aus meiner Sicht reichen die heute bestehenden Möglichkeiten aus. Die Pensionskassen nutzen den gesetzlich gegebenen Rahmen nur selten aus, zusätzliche Freiheiten bringen daher nichts.

Picture of Bernard Perritaz when he is in a discussion

Die Zahl firmeneigener Pensionskassen nimmt laufend ab, der Trend geht hin zu Sammelstiftungen. Wird diese Entwicklung anhalten? 
Ja, ganz klar. Bald wird es weniger als 1000 Kassen in der Schweiz geben. Dieser Trend ermöglicht mehr Professionalität und bietet uns Brokern die Chance, qualifizierte Beraterdienstleistungen anzubieten. Er stellt aber auch eine grosse Verantwortung gegenüber den Versicherten dar.

Sollen die Rentenbezüger an der Sanierung des Vorsorgesystems beteiligt werden – oder sind einmal erworbene Rentenansprüche tabu?
Aus Gründen der Verlässlichkeit und wegen des guten Rufes der 2. Säule dürfen versprochenen Renten nicht verringert werden. Die Glaubwürdigkeit der 2. Säule bedingt garantierte Renten.

Braucht die 3. Säule mehr Staatsförderung, um die 1. und 2. Säule zu entlasten?
Schlecht wäre das nicht, insbesondere für den Mittelstand. Ich kann mir eine Erhöhung der steuerbefreiten Jahresbeiträge wie auch die Möglichkeit, im Nachhinein Jahreseinkäufe zu tätigen, gut vorstellen. Personen mit tiefen Einkommen profitieren von solchen Massnahmen allerdings nicht, die Wirkung auf das Gesamtsystem wäre daher beschränkt. 

Die Altersvorsorge in der Schweiz mit den 3 Säulen gilt trotz Reformstau international als Vorzeigemodell. Was machen wir besser als beispielsweise Frankreich oder Deutschland? 
Die Diversifikation, also die Tatsache, dass wir nicht "alle Eier in den gleichen Korb legen", verschafft uns Vorteile. Unser System ist dezentral organisiert, flexibel und die Verantwortlichkeiten sind breit abgestützt. Im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich ist bei uns die Vorsorge viel stärker kapitalisiert. Während unsere Nachbarn auf das Umlageverfahren setzen, nutzen wir auch die individuelle und die gesellschaftliche Kapitalisierung. Im Gegenzug ist das Schweizer System komplizierter und der Solidaritätsgedanke ist weniger stark ausgeprägt als in Deutschland oder in Frankreich.

1) https://www.iaf.ch/bildungsabschluesse/dipl-beraterin-berufliche-vorsorge-iaf/

Picture of Bernard Perritaz waving his arm
Zur Person
Bernard Perritaz
Mitglied der Geschäftsleitung Kessler & Co AG (Leitung Westschweiz)

Bernard Perritaz, 1969, Schweizer Staatsbürger, ist seit 2009 Mitglied der Geschäftsleitung der Kessler & Co AG, wo er für die Geschäftstätigkeit in der Westschweiz sowie für Kessler Vorsorge AG verantwortlich zeichnet. Kessler ist eines der führenden Schweizer Unternehmen für ganzheitliche Risiko-, Versicherungs- und Vorsorgeberatung und seit 1998 Partner des globalen Marsh-Netzwerkes. Bei Kessler eingestiegen ist Bernard Perritaz 2003, damals als Verantwortlicher für die Abteilung Berufliche Vorsorge. Zuvor war er in verschiedenen Funktionen bei der Baloise Versicherung tätig. Bernard Perritaz ist verheiratet, Vater von zwei Kindern und lebt im freiburgischen Ecuvillens. Er beschäftigt sich als Mitglied verschiedener Verbände und Organisationen mit den unterschiedlichsten Aspekten der beruflichen Vorsorge. Seine Freizeit verbringt er mit Ski fahren, Golfen und langen Spaziergängen.

echo-Interview mit Bernard Perritaz

Drucken