Benedikt Weibel im Interview
echo-Interview, September 2012

Die Pensionskasse - ein Kampf an allen Fronten

ELIPSLIFE ECHO - INTERVIEWS WITH PROMINENT BUSINESS LEADERS

Die Pensionskasse — ein Kampf an allen Fronten

echo-Interview mit Benedikt Weibel, Ex-SBB Chef

elipsLife echo: Herr Weibel, Sie sind seit gut einem Jahr im Pensionsalter, aber nach wie vor als Autor, Referent, Professor und Verwaltungsrat aktiv. Wir gehen mal davon aus, dass nicht die mageren Leistungen der SBB-Pensionskasse Sie zu so viel Engagement treiben, oder doch?

Benedikt Weibel: Meine jetzigen Aktivitäten haben nichts mit den Leistungen der SBB-Pensionskasse zu tun, sehr wohl aber mit der Pensionskasse an sich. Mit Ausnahme der AHV, die ich seit rund einem Jahr erhalte, beziehe ich nämlich keine Rente. Als ich mit 60 Jahren bei den SBB aufhörte, liess ich mir nach intensiver Beratung das ganze PK-Kapital auszahlen. Dieses Geld habe ich bei einer Versicherung platziert, und ich zahle weiterhin Beiträge ein. Mit 70 Jahren werde ich dann mein Kapital beziehen. Auch wenn sich in den letzten 6 Jahren das wirtschaftliche Umfeld verändert hat, bereue ich meinen Entscheid nicht.

Sie waren insgesamt 28 Jahre bei den SBB, von 1993 bis 2006 als Vorsitzender der Geschäftsleitung. Wie haben Sie als Chef die Pensionskasse der SBB wahrgenommen, welchen Stellenwert hatte die Kasse bei strategischen Unternehmensentscheiden?

Die Pensionskasse war eines meiner grössten Probleme. Von 1993 bis 2006 war das ein dauernder Kampf an allen Fronten. 1993 steckten wir in einer klassischen Turn-around-Situation. In den 5 Jahren davor waren die Personalkosten von 2,5 auf über 3 Milliarden Franken gestiegen. Wir mussten daher die Personalkosten drastisch reduzieren. Und Personalkosten lassen sich über drei Faktoren beeinflussen: Mitarbeiterzahl, Lohn und Pensionskasse. Während meiner Zeit als SBB-Chef haben wir den Personalbestand um 12000 Leute reduziert. 1996 gab es eine Lohnkürzung, und die Löhne wurden für 2 Jahre eingefroren. Bei der Pensionskasse konnten wir allerdings nicht selbst entscheiden. Wir hatten zwar unsere eigene Kasse, doch die Statuten wurden vom Parlament genehmigt. Zudem hatten wir uns 1 : 1 an die Pensionskasse des Bundes zu halten.

Benedikt Weibel im Interview

… und welche Massnahmen haben Sie bei der ­Pensionskasse ergriffen?

Wir hatten damals eine Zweidrittel-Deckung nach dem Perennitätsprinzip, wobei das ungedeckte Drittel mit 4 % verzinst werden musste. Diese Verzinsung war mit der Personalzunahme exponentiell gewachsen. Gegen den Willen des zuständigen Bundesrates und der Finanzverwaltung hatte ich mir zum Ziel gesetzt, die SBB-Pensionskasse auszufinanzieren. Ich schickte damals sogar zum einzigen Mal in meinem Leben allen Ständeräten einen Brief. Schliesslich entschied das Parlament, die PK auszufinanzieren, selbstverständlich ohne Schwankungsreserven. Wir wussten, dass wir eine Soll-Rendite von 5,2 % für das Erreichen einer 100 %-Deckung brauchten. Doch das schien damals in der Zeit des Börsenbooms und der Dotcom-Blase durchaus realistisch.

Trotzdem klappte es mit der Ausfinanzierung nicht.

Was im Nachhinein klar ist, weil eine Rendite von 5,2 % nie zu erzielen war. Durch die vielen frühzeitigen Pensionierungen, welche voll finanziert wurden und damit attraktiver waren als eine freiwillige Pensionierung, entstand ein sehr problematisches Verhältnis Aktive—Pensionierte. Die Pensionierten können aber nicht zu einer Sanierung -beigezogen werden. Wir erarbeiteten zusammen mit der Finanzverwaltung des Bundes einen guten Lösungsvorschlag. Dabei hätte der Bund den Altbestand übernommen und hätte diesen abschmelzen lassen. Dieses Risiko wäre genau definierbar gewesen. Doch Bundesrat Merz wollte nicht, und das war’s dann. Ich war damals persönlich sehr enttäuscht. Mit Erträgen aus dem Immobilienbereich im Wert von 1,5 Milliarden Franken konnte schliesslich ein Deckungsgrad von 93 % erreicht werden.

Seit einiger Zeit halten privatwirtschaftliche Management-Prinzipien Einzug in öffentlich-rechtliche Unternehmen. Das ist auch bei den SBB mit ihrem Versorgungsauftrag der Fall. Wie viel Privatwirtschaft aber ertragen die SBB?

Ich halte den Unterschied privat zu öffentlich nicht für -entscheidend. Es gibt keine private Firma, für die das regu-latorische Umfeld keine Rolle spielt. Nehmen Sie als Beispiel die Pharmaindustrie. Diese hängt auf Gedeih und Verderb von den Entscheidungen der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde ab. Management ist Management, ob privat oder öffentlich spielt keine zentrale Rolle. Natürlich sind Zweckbestimmungen und Kontext unterschiedlich, aber das wirtschaftliche Prinzip gilt für beide Bereiche -genau gleich.

Benedikt Weibel Interview Pensionskasse

Die Schweiz ist ein Land von Zugfahrenden, alle ­haben eine Vorstellung davon, wie die SBB aussehen sollen. Wie haben Sie’s geschafft, Versorgungsauftrag und unterschiedliche Kundenerwartungen unter einen Hut zu bringen?

1993 bestanden die SBB-Kunden noch aus den «vier A» — den Armen, den Alten, den Auszubildenden und den Ausgeflippten. Wenn Sie heute in einem Zug sitzen, finden Sie darin einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Das gibt es in keinem anderen Land. Reiste man früher aus ideologischen Gründen mit der Bahn, tut man das heute, weil es die schnellste Art des Vorwärtskommens ist. In der Schweiz gibt es seit jeher eine starke emotionale Bindung zu den SBB. Die breite Bevölkerung steht hinter der Bahn. Das zeigt auch der Erfolg mit dem Halbtaxabonnement: Auf einen Schlag hatten wir über 2 Millionen Leute mit einem Halbtax. Oder das GA. Als ich 1986 Chef Personenverkehr war, hatten wir 25 000 GA-Kunden, jetzt sind es 400 000. Das ist eine unglaubliche Entwicklung, und sie zeigt, dass die SBB die Kundenerwartungen treffen.

Angesichts dieser Zahlen und angesichts der vollen Züge könnte man da nicht sagen, die SBB sind Opfer ihres Erfolgs? Wie viel Wachstum können die SBB überhaupt verkraften?

Die Wachstumsraten sind gar nicht so gross. Von 1993 bis heute hatten wir ein Wachstum von 50 %, also rund 2 % pro Jahr. Im ersten Halbjahr 2012 gab es sogar eine kleine Reduktion. Meine Meinung ist klar: Wer das Gefühl hat, wir hätten in der Schweiz überfüllte Züge oder Bahnhöfe, der sollte mal den Shinjuku-Bahnhof in Tokio besuchen. Mich freut es, wenn die Züge voll sind und es Leute auf den Bahnhöfen hat. Es gibt übrigens keine boomende Region auf der Welt, wo es keine Stau- und Warteschlangenphänomene gibt.

Benedikt Weibel Interview Versorgungsauftrag

In vielen KMUs kennt der Chef oder die Chefin die Mitarbeitenden persönlich, eine gewisse Nähe ist also gegeben. Was haben Sie als Chef eines 30 000-Leute-Betriebes unternommen, um möglichst nah an Ihren Leuten zu bleiben?

Das ist eine der zentralsten Fragen überhaupt. Ich hatte schon ganz früh die Devise, jede Einladung von Personalseite anzunehmen, und ich bin an jede Gewerkschaftsversammlung gegangen. Als wir beispielsweise beschlossen, die Löhne einzufrieren, war mir klar, dass ich diesen Entscheid den Leuten vor Ort erklären muss. Wir haben die Leute zunächst an 15, später an 17 Standorten zum -Gespräch eingeladen. Ich war immer alleine unterwegs, bin ohne Support den Leuten gegenübergestanden. Die ersten 15 Minuten erklärte ich jeweils den Entscheid, und danach gab es die intensivsten Diskussionen. Diese Treffen bekamen bald den Namen Flächengespräche — weil ich im ganzen Land unterwegs war. Ich habe das in der Folge jedes Jahr gemacht, immer in der zweiten Jahreshälfte. Und wenn es etwas zu entscheiden gab, brachte ich das Erlebte sofort in die Geschäftsleitung ein. Diese Gespräche ermöglichten einen sehr intensiven Dialog mit Mitarbeitern sämtlicher Hierarchiestufen und Funktionen.

Das haben wir richtig verstanden, diese «Flächengespräche» fanden jeweils unmittelbaren Niederschlag in der nächsten Geschäftsleitungssitzung?

Ja, denn für jede grosse Unternehmung gilt das Gesetz: Schlechte Nachrichten werden nach oben gefiltert. Aus diesem Grund muss der Chef an die Basis. Ich erinnere mich an ein «Flächengespräch» in Winterthur, als mich ein Mitarbeiter fragte, ob mir bewusst sei, dass die Strecke Bülach—Schaffhausen ohne Sicherheitssysteme befahren werde. Kaum im Büro zurück, gab ich den Auftrag, den Sachverhalt zu überprüfen. Und tatsächlich, man hatte die Bahnhöfe angepasst, aber kein kompatibles Rollmaterial verwendet. Selbstverständlich wurde die Situation sofort bereinigt. Es ist wichtig, dass die Leute sehen, dass ihre Interventionen zu Veränderungen führen. Je schneller, desto besser.

Gibt es ein Rezept, um die Wahrnehmung von Kundenbedürfnissen in einem Grossbetrieb durch alle Unternehmensbereiche und hierarchien sicherzustellen?

Der Kontakt mit den Mitarbeitenden erfüllte auch in dieser Hinsicht seinen Zweck. Schliesslich sind sie es, die mit den Kunden Kontakt haben. Kommt hinzu, dass ich sehr bekannt war und selber sehr viel mit dem Zug gefahren bin. Ich wurde noch und noch angesprochen. Dadurch habe ich eine hohe Sensibilität für das, was der Kunde will, entwickelt.

Kundenbedürfnisse verändern sich ständig. In der Privatwirtschaft sorgt der Konkurrenzdruck für Innovation. Den SBB fehlt aber diese Konkurrenz. Wie schaffen es öffentlich-rechtliche Unternehmen, ohne Konkurrenz konkurrenzfähig zu bleiben?

Die SBB haben sehr wohl Konkurrenz. Im Privatbereich gibt es den motorisierten Individualverkehr, im Güterverkehr ist der Markt seit 1999 offen. Die Meinung, Konkurrenz führe zu besseren Kundenbeziehungen, halte ich übrigens für einen Fehlschluss. Wenn ich sehe, wie ich manchmal als Kunde behandelt werde, muss ich sagen, dass viele Firmen der Privatwirtschaft mir das Leben schwer machen.

Zurück zum Thema Pensionskassen. Welche Entwicklung erwarten Sie für die kommenden 3 bis 5 Jahre im BVG-Bereich?

Da bin ich sehr skeptisch. Ich zweifle daran, dass das heutige Modell in Zukunft tragfähig sein wird, weil ein Finanzträger, nämlich die Kapitalerträge, weggebrochen ist. Irgendwann wird das Kapital in eine Rente umgewandelt, und von diesem Moment an gilt ein Leistungsprinzip. Dabei gibt es zwei Faktoren, die für das System sehr problematisch sind: die Langlebigkeit einerseits und die tiefen Kapitalerträge andererseits. Müsste ich eine Prognose wagen, würde ich sagen, dass in 20 oder 30 Jahren das einzige mögliche Modell jenes sein wird, welches ich für mich gewählt habe: die Auszahlung des angesparten Kapitals. Das gemeinsame Ansparen von Kapital seitens des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers ist gut, aber die Umwandlung in eine Rente wird immer mehr zum Problem.

Benedikt Weibel Interview
Zur Person
Benedikt Weibel
Ex-Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB

Benedikt Weibel, 1946 geboren, Dr. rer. pol., Studium und Assistenz an der Universität Bern. Diplomierter Bergführer. 1978 trat er in die SBB ein und war von 1993 bis 2006 Vorsitzender der Geschäftsleitung. 2003—2006 Präsident des Weltverbandes der Eisenbahn-unternehmungen. 2003—2007 Verwaltungsrat der französischen Staatsbahn. 2007/08 -Delegierter des Bundesrates für die EURO 2008. Heute ist Benedikt Weibel Honorarprofessor an der Universität Bern, Publizist sowie Präsident und Mitglied verschiedener Verwaltungsräte.