elipsLife echo-Interview mit Jürg Brechbühl
echo-interview, August 2013

Unser 3-Säulen-Prinzip ist ein hochintelligentes System

ELIPSLIFE ECHO - EINE GESPRÄCHSSERIE MIT PERSÖNLICHKEITEN AUS DER WIRTSCHAFT

Unser 3-Säulen-Prinzip ist ein hochintelligentes System

echo-Interview mit Jürg Brechbühl, Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen

elipsLife echo: Herr Brechbühl, im Ausland gilt das 3-Säulen-Prinzip der Schweiz in der Altersvorsorge als vorbildlich, hierzulande kommt es immer wieder unter Druck. Woher kommt diese unterschiedliche Sichtweise?

Sie kennen die Redensart, wonach der Prophet im eigenen Land nichts wert ist. Mit Bestimmtheit lässt sich sagen, dass unser 3-Säulen-Prinzip ein hochintelligentes System ist. Warum? Die Risiken der AHV unterscheiden sich von jenen der beruflichen Vorsorge: Während wir bei der AHV mit der demografischen Entwicklung konfrontiert sind, ist die berufliche Vorsorge dem Kapitalmarktrisiko ausgesetzt. Unser System erlaubt uns, mit den unterschiedlichen Risiken unterschiedlich umzugehen. Selbstverständlich ist das 3-Säulen-Prinzip nicht frei von Problemen. Wir haben unsere Hausaufgaben zu machen, und da hilft auch der Vergleich mit dem Ausland nicht weiter. Allerdings werden mit der zunehmenden Komplexität unserer Gesellschaft auch die Lösungen in unserem System komplexer.

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Wie beurteilen Sie persönlich das Niveau der Berufsvorsorge in der Schweiz?

Wenn ich beim Vergleich mit dem Ausland bleibe, müssen wir uns sicher nicht verstecken. Wir haben eine gute Altersvorsorge. Das Problem der Altersarmut ist mit unserem 3-Säulen-Prinzip, zu dem auch die Ergänzungsleistungen gehören, weitgehend gelöst. Dank des Überobligatoriums in der beruflichen Vorsorge haben wir verschiedene Berufskategorien mit einer sehr komfortablen Vorsorge. Auf der anderen Seite haben wir aber auch Bereiche, in denen die Leistungen den Verfassungsauftrag, nämlich 60 % des vorherigen Einkommens aus AHV und beruflicher Vorsorge sicherzustellen, ein wenig schrammen, um das so zu formulieren. In diesen Bereichen müssen wir sicherstellen, das Leistungsniveau bei zukünftigen Reformen nicht zu senken.

Die Linke fordert den Ausbau der 1. Säule vor allem zulasten der 2. Säule. Die Erfahrungen im Ausland zeigen aber, dass die Konzentration auf die 1. Säule zu einer immensen Staatsverschuldung führt. Inwieweit ist ein Ausbau der AHV dennoch sinnvoll?

In den nächsten Monaten wird uns die Volksinitiative «AHV Plus» des Gewerkschaftsbundes beschäftigen. Diese fordert einen Ausbau der AHV um 10 %, welcher aber nicht auf Kosten der beruflichen Vorsorge gehen soll. Bei der AHV stehen wir vor einer demografischen Herausforderung, die wir bewältigen müssen. Zu diesem Zweck sehen unsere Vorschläge eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um bis zu 2 % bis zum Jahr 2030 vor. Wenn nun die Leistungen der AHV weiter ausgebaut werden sollen, entsteht ein zusätzlicher Finanzierungsbedarf.

In der Schweiz ist ein Trend hin zur Individualisierung der Vorsorge feststellbar. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Mit unserer Reform und der Einführung des flexiblen Rentenalters versuchen wir – und das ist neu – auch in der 1. Säule einen Schritt Richtung Individualisierung zu machen. In der 1. Säule bestehen heute keine Wahlmöglichkeiten. Deshalb ist es sicher richtig, den Altersrücktritt weiter zu individualisieren. In der beruflichen Vorsorge dagegen müssen wir aufpassen, nicht ins andere Extrem zu fallen. Hier gibt es heute bereits viele Individualisierungsmöglichkeiten, was zu einer gewissen Entsolidarisierung in der beruflichen Vorsorge führen kann. Ich denke beispielsweise an die Regelungen zum Todesfallkapital oder an die Förderung der Kapitaloptionen, die letztlich dazu führen, dass dem versicherten Kollektiv praktisch alle Mittel entzogen werden. In der beruflichen Vorsorge kommt die Individualisierung heute klar an ihre Grenzen. Vielleicht hat man in der Vergangenheit eher zu viel zugelassen.

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Den Pensionskassen werden stürmische Zeiten vorausgesagt, vor allem wegen der demografischen Entwicklung, den hohen Diskontsätzen und den tiefen Zinsen. Werden die PKs – und damit wir alle – Opfer von nichtfinanzierbaren Leistungsversprechen?

Die Pensionskassen befinden sich bereits seit 10 Jahren in stürmischen Zeiten. Wir wissen seit 10 Jahren, dass eine Pensionskasse ohne offensives Anlageportefeuille keine Rendite erzielt, mit der sie den Umwandlungssatz finanzieren kann. Der Umwandlungssatz im BVG ist zurzeit eindeutig zu hoch. Dieser muss korrigiert werden. Der Bundesrat hat hierzu seine Vorschläge gemacht. Er will aber die Leistungen erhalten. Deshalb muss die Kapitalisierung durch höhere Beiträge verstärkt werden. Im Überobligatorium haben viele Kassen diesen Schritt bereits vollzogen und die Leistungen korrigiert. Sicher ist: In der beruflichen Vorsorge lassen sich immer bloss die Leistungen ausrichten, die auch erwirtschaftet worden sind.

Ein Leistungsabbau scheint unausweichlich, sei es in Form tieferer Umwandlungssätze oder der Erhöhung des Rentenalters. Bislang macht es den Anschein, als hätten immer nur die Beitragszahler die Lasten zu tragen. Wie lange können wir uns bei der Sanierung des Vorsorgesystems die Schonung der Rentner noch leisten?

Diese Frage ist falsch gestellt. Wir müssen uns doch fragen, wie wir die Parameter ausgestalten sollen, damit die Renten solid finanziert sind. Stimmen diese, so stellt sich die Frage gar nicht. Dass heute eine Pensionskasse in Unterdeckung geraten kann, hängt auch damit zusammen, dass gewisse Parameter falsch sind. Wenn ein Umwandlungssatz ausgerichtet werden muss, der mit den vorhandenen Anlagen nicht erwirtschaftet werden kann, muss dieses Problem gelöst werden. Würden wir jetzt damit beginnen, die Leistungen an die Rentner zu korrigieren oder zu reduzieren, führt dies zu einem zweiten, aus meiner Sicht sehr grossen Problem: Das Vertrauen in die berufliche Vorsorge wird gefährdet. Wie soll ich einer Versicherung vertrauen, die mir zwar jeden Monat einen erheblichen Teil meines Bruttolohnes wegnimmt, aber keine Sicherheit über meine Rente gibt? Jede und jeder hat doch einen Anspruch auf eine gesicherte Lebensplanung. Also müssen wir die Parameter so setzen, dass die Leistungen finanziert sind.

Am 1. Januar 2012 hat die Oberaufsichtskommission Berufliche Vorsorge (OAK BV) die Aufsicht über die kantonalen Pensionskassen-Aufsichtsbehörden übernommen. Vorher hatte das BSV diese Aufgabe. Was hat sich mit der OAK BV für die Vorsorgeeinrichtungen geändert?

Für die Vorsorgeeinrichtungen sollte sich nicht viel geändert haben, diese unterstanden ja bereits der Direktaufsicht der kantonalen Aufsichtsbehörden. Bei den national tätigen Vorsorgeeinrichtungen wie der Pensionskasse der Schweizerischen Bundesbahnen oder den Sammelstiftungen der Versicherungsgesellschaften hat sich dagegen etwas geändert. Diese unterstanden zuvor der Aufsicht durch das BSV, jetzt unterstehen auch sie den jeweiligen kantonalen Aufsichtsbehörden. Allerdings ist auch dies bloss eine Änderung in der Zuständigkeit der Aufsicht, bei den aufsichtsrechtlichen Bestimmungen hat sich nichts geändert.

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Autonome Sammelstiftungen und Vollversicherer sind zwei Varianten in der beruflichen Vorsorge. Sammelstiftungen unterstehen der kantonalen Aufsicht, die Vollversicherer der FINMA. Wurden da aufgrund unterschiedlicher regulatorischer Bestimmungen bezüglich Solvenzkapital, Anlagen oder Teilliquidation nicht unterschiedlich lange Spiesse geschaffen?

Mit der Strukturreform wurde versucht, die zuvor unterschiedlich langen Spiesse anzugleichen. Bei den vollversicherten Pensionskassen wird die Vergleichbarkeit erschwert, weil diese eigentlich gar kein Vermögen besitzen. Dieses wurde ja in die dahinterstehende Versicherungsgesellschaft transferiert. Die Versicherungsgesellschaft untersteht dem Regulatorium der FINMA, während die autonome oder teilautonome Sammelstiftung eigenständiger Vermögensträger ist und die Anlagen selber bestimmt. Im Gegensatz zur Vollversicherung können die Stiftungen auch in eine Unterdeckung verfallen. Das erklärt auch die unterschiedliche Wirkung einer Teilliquidation.
Im Prinzip gelten die gleichen Regelungen, aber weil eine Vollversicherung nie in Unterdeckung geraten kann, ist die Teilliquidation auch nie ein Problem. Gerät hingegen eine Sammelstiftung in Unterdeckung, kann die Teilliquidation zu einem Problem werden und unter Umständen kommt es zu Kürzungen bei den Freizügigkeitsleistungen.

Es wird gemeinhin angenommen, dass kleine Vorsorgewerke zu wenig risikofähig sind. Teilen Sie diese Meinung?

Vorsorgewerke sind einer Sammelstiftung angeschlossen. Auch hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder haben Sammelstiftungen ihr Anlagerisiko via Vollversicherung versichert oder die Vorsorgewerke von Sammelstiftungen tragen ihr Anlagerisiko selber. Tendenziell ist es so: Je kleiner das Vorsorgewerk, desto grösser sein Interesse, einer Sammelstiftung mit Vollversicherung anzugehören. Ist ein Vorsorgewerk risikofähiger, ist eine Lösung interessanter, die es erlaubt, die Anlagestrategie ganz oder teilweise selber zu bestimmen.

Dann macht aus Ihrer Sicht eine Bündelung der Pensionskassen keinen Sinn?

Generell lässt sich nicht sagen, dass kleine Pensionskassen zusammengeführt werden müssen. Auch hinter kleinen Kassen stehen Betriebe, die eine eigene Pensionskasse wollen. Die Konzentration bei den Pensionskassen beweist jedoch, dass es ein Bedürfnis gibt, sich grösseren Kassen anzuschliessen. Sie ist jedoch auch Folge der Konzentration in der Wirtschaft. Es ist eine Stärke unseres Systems, dass jeder Betrieb entscheiden kann, welche Pensionskasse er will. Die Pensionskasse muss vom Risikoprofil her zum Betrieb passen, dabei ist nicht entscheidend, ob es eine grosse oder kleine Kasse ist.

Vollversicherungslösungen wird vorgeworfen, nicht genügend transparent zu sein. Trifft es Ihrer Meinung nach zu, dass die finanziellen Sicherheiten bei Voll­versicherungslösungen durch überhöhte Risikoprämien «eingekauft» werden und dies somit vorweggenommene Sanierungsbeiträge sind?

Im Rahmen der Reform der Altersvorsorge prüfen wir, ob es zu hohe Risikoprämien gibt. Der Offenlegungsbericht der FINMA zeigt auf, dass die eingenommenen Risikoprämien etwa doppelt so hoch sind wie die ausbezahlten Risikoleistungen. Da müssen wir ein Fragezeichen setzen. Der Verdacht ist naheliegend, dass aus den Risikoprämien der Umwandlungssatz finanziert wird. Ob allerdings nur die Vollversicherungen von diesem Problem betroffen sind oder auch autonome Pensionskassen auf ähnliche Mittel zurückgreifen, ist eine ganz andere Frage. Heute können sie einen zu hohen Umwandlungssatz nicht via Prämien finanzieren, weil das nur funktionieren würde, wenn es keine Austritte aus einer Kasse gäbe und entsprechend keine Freizügigkeitszahlungen fällig würden. Die Risikoprämien indessen bleiben in der Pensionskasse. Deshalb habe ich den Eindruck, dass auch einige autonome Pensionskassen Risikoprämien einsetzen, um den Umwandlungssatz zu finanzieren.

Heute ist oft von Überregulierung die Rede, auch im Vorsorgebereich. Eine grosse Regulierungsdichte führt zu höheren Kosten. Müsste das BSV im Interesse der Versicherten nicht bestrebt sein, die Regulierung so schlank wie irgend möglich zu halten?

Da haben Sie absolut Recht. Eine Reduktion der Regulierung setzt allerdings voraus, dass alle bei den Pensionskassen aktiven Akteure ausschliesslich im Interesse der Versicherten handeln. Wenn wir eine Regulierung vorschlagen oder das Parlament eine solche beschliesst, geht es ja nicht darum, die Pensionskassen zu gängeln. Praktisch alle Bestimmungen, die im Rahmen der Strukturreform ins BVG aufgenommen wurden, gehen auf einen Missstand bei einzelnen Pensionskassen zurück oder dienen dem Schutz der Versicherten. Nur wenn sich sämtliche Akteure im Pensionskassenbereich an die Interessen der Versicherten halten, lässt sich die Regulierung zurückfahren.

Die Anforderungen an PK-Stiftungsräte steigen unaufhörlich: Ist das Milizsystem in der Berufsvorsorge am Ende?

Das Milizsystem ist eine Stärke der Pensionskassen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass es bestehen bleibt. Schliesslich sind es die Beiträge von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, die in eine Pensionskasse fliessen, und es ist wichtig, dass die beiden Kapitalgeber zusammen entscheiden, was mit dem Geld geschieht. Von daher messe ich dem Milizsystem einen sehr hohen Wert zu. Auf der anderen Seite liegen rund 620 Milliarden Franken im Topf der Pensionskassen. Diese Milliarden müssen mit einem gewissen Mass an Fachwissen verwaltet werden. Deshalb muss den Stiftungsräten eine fortlaufende Aus- und Weiterbildung vorgeschrieben werden.

Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs das aktuelle Niveau der beruflichen Vorsorge in der Schweiz beurteilt. Was werden uns die nächsten BVG-Revisionen diesbezüglich bringen?

Der Bundesrat legt eine umfassende Reform der Altersvorsorge vor, mit welcher die Leistungen in der AHV und im BVG gesichert werden sollen. Er hat Eckwerte bestimmt, auf deren Grundlage wir nun den Gesetzesvorschlag erarbeiten. Wir revidieren das BVG, nicht grosszügige überobligatorische Regelungen. Das heisst, wir sprechen bei diesen Reformen von der Mindestvorsorge – und in der Mindestvorsorge hat es nach unten keinen Spielraum. Mit den von uns vorgeschlagenen Korrekturmassnahmen werden wir das Leistungsniveau im BVG halten können.

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Zur Person
Jürg Brechbühl
Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherungen

Jürg Brechbühl hat Jahrgang 1956 und ist seit dem 1. Juli 2012 Direktor des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV). Nach seinem Jus-Studium an der Universität Basel trat er 1982 als juristischer Mitarbeiter der Sektion Renten ins BSV ein. 1987 wurde er Direktionsadjunkt, 1988 zum Chef der Sektion Renten und gleichzeitig zum stellvertretenden Leiter der Abteilung AHV/EO/EL ernannt. 1997 wurde Jürg Brechbühl Stabschef des BSV. Im Jahr 2000 wurde er zum Vizedirektor und Leiter des Geschäftsfelds Altersvorsorge befördert. Damit war er im BSV verantwortlich für die AHV und die 2. Säule. 2005 verliess Jürg Brechbühl das BSV und wechselte in die Privatwirtschaft, wo er bis Juni 2012 als Berater sowie als Verwaltungs- und Stiftungsrat von Vorsorgeeinrichtungen tätig war.