elipsLife echo-Interview mit Christine Egerszegi
echo-interview, Juni 2014

Rentenalter 65 für Frauen ist selbstverständlich

ELIPSLIFE ECHO - EINE GESPRÄCHSSERIE MIT PERSÖNLICHKEITEN AUS DER WIRTSCHAFT

Rentenalter 65 für Frauen ist selbstverständlich

echo-Interview mit Christine Egerszegi, Ständerätin des Kantons Aargau

elipsLife echo: Frau Egerszegi, verschiedene Abstimmungsresultate der letzten Jahre zeigen, dass sich zwischen der Classe Politique und der Bevölkerung eine Kluft aufgetan hat. Wie konnte es zu dieser von Skepsis und Misstrauen gekennzeichneten Entwicklung kommen?

Christine Egerszegi: Ich sehe die grosse Kluft nicht zwischen Bevölkerung und Parlament, sondern in der Bevölkerung an sich, insbesondere zwischen der städtischen Bevölkerung und der Landbevölkerung. Die Probleme und Bedürfnisse sind unterschiedlich, was bei Abstimmungsvorlagen immer wieder zum Vorschein kommt. In den Städten ist die Bevölkerung offener und globalisierter als auf dem Land. Im Ständerat sind wir recht nah an der Bevölkerung. Dies in erster Linie deshalb, weil die Parteipolitik keine so grosse Rolle spielt. Im Nationalrat ist es hingegen Mode geworden, keine Abweichler von der Parteimeinung zu dulden. Wenn jedoch in einem Mehrparteienstaat jede Partei nur für sich selber schaut, sind gute Lösungen schwierig zu finden.

…und was können die politischen Kreise dagegen tun?

Information möglichst gut in die Bevölkerung tragen. Ausserdem müssen wir unsere Funktion als Milizparlament wahrnehmen. Wenn ich am Samstag beim Wochenendeinkauf vor der Kasse Schlange stehe, sehe ich, was die Leute vor und hinter mir in ihren Einkaufswagen haben. Auf dem Golfplatz sehe ich das weniger.

Genauso wie sich eine Kluft zwischen der Bevölkerung und der Politik bzw. zwischen Bevölkerungsteilen geöffnet hat, hat auch das Verhältnis zur Wirtschaft gelitten. Ist das Schweizer Volk nicht mehr wirtschaftsfreundlich gesinnt?

Finden sich irgendwo schwarze Schafe, neigen wir dazu, dies zu generalisieren. Schwarze Schafe gibt es aber überall, in der Politik genauso wie in der Wirtschaft. Fälle wie das Grounding der Swissair oder die 68 Milliarden, welche der Staat der UBS geben musste, damit diese in der Finanzkrise überleben konnte, schwächen das Vertrauen. Nach solchen Vorfällen braucht es Jahre, um das Vertrauensverhältnis wieder aufzubauen. Dabei geht unter, was diese Firmen vorher an Positivem geleistet haben. Man sieht bloss noch die Milliardenzahl und übersieht, dass zum Beispiel im Fall der UBS letztlich für den Staat sogar ein Gewinn herausschaute.

An Stammtischen ist oft zu hören: «Wir werden dereinst ja doch keine AHV mehr bekommen.» Was meinen Sie zu solchen Aussagen?

Ein so reiches Land wie die Schweiz wird es sich nie leisten, keine AHV mehr zu zahlen. Die Altersvorsorge ist ein zentraler Pfeiler unseres Staates, und wir haben verschiedentlich feststellen können, dass es der sensibelste Pfeiler innerhalb des Sozialversicherungssystems ist. Die Bevölkerung hat ein unglaublich gutes Gefühl dafür, was überrissen ist und was nicht. Sie lässt weder grosse Ausbauanliegen zu, noch akzeptiert sie grössere Abstriche.

Wie beurteilen Sie persönlich das Niveau der beruflichen Altersvorsorge in der Schweiz?

Unser 3-Säulen-System ist einmalig und funktioniert in vielerlei Hinsicht ausgezeichnet. Zum Beispiel die Finanzierung. In der 1. Säule, der AHV, haben wir das Umlageverfahren: Was auf der einen Seite reinkommt, geht auf der anderen wieder raus. Der Nachteil dabei ist, dass sich mit diesem Geld kein Gewinn erwirtschaften lässt. Dafür wissen wir genau, was in der Kasse ist. Und weil sich alle Fragen rund um die AHV sehr gut berechnen lassen, ist alles transparent. Bei der 2. Säule ist die Finanzierung anders, da lässt sich Gewinn erwirtschaften. Aber überall dort, wo sich Gewinne erwirtschaften lassen, kann es auch Verluste geben. Das geht leider oft vergessen. Die beiden Säulen ergänzen sich bezüglich Finanzierung und sorgen zusammen für einen Ausgleich. Ein weiterer Grund für die Stabilität des Systems ist die Tatsache, dass jede Bürgerin und jeder Bürger AHV-Beiträge einzahlt. Hier spielt die Solidarität zwischen Alt und Jung, zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und zwischen Arm und Reich. In der zweiten Säule gibt es neben dem Grundsockel für alle Arbeitnehmenden die Möglichkeit, Besserverdienenden eine Ergänzungsversicherung anzubieten. Während diese Leute bei der AHV viel mehr abgeben, als sie jemals an Rente wieder erhalten, gibt ihnen die 2. Säule die Möglichkeit, ihren Verhältnissen entsprechend vorzusorgen. Das mag vielleicht nicht immer einfach zu erklären sein, ist aber innerhalb des ganzen Systems logisch und in meinen Augen auch eine Form von Gerechtigkeit. Die 3. Säule ergänzt dann als eine Art individueller Sparstrumpf das System.

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Im Ausland gilt unser 3-Säulen-Prinzip in der Altersvorsorge vielerorts als vorbildlich. In der Schweiz selbst gerät es immer mehr unter Druck. Woher kommt diese unterschiedliche Sichtweise?

Das 3-Säulen-Prinzip wird manchmal in gewissen Kreisen in Frage gestellt, von der breiten Öffentlichkeit jedoch nicht. Das 3-Säulen-Prinzip ist anerkannt. Lebensversicherer stehen oft am Pranger. Auch sie haben die Aufgabe, möglichst viel zu erwirtschaften, müssen aber neben den Leistungsbezügern und den Beitragszahlern auch die Aktionäre mit ihren legitimen Ansprüchen berücksichtigen. Aktionäre wollen vom Gewinn profitieren. Und wenn diese nicht einbezogen werden, funktioniert das Ganze nicht mehr.

In der Schweiz ist ein Trend hin zur Flexibilisierung der 2. Säule bzw. der beruflichen Vorsorge feststellbar. Was halten Sie von dieser Entwicklung?

Im Obligatorium legt der Staat die Spielregeln in Form eines Rahmengesetzes fest. Er muss die Aufsicht organisieren und dafür sorgen, dass das Ziel erreicht wird, nämlich die Ausbezahlung von 60% des letzten bezogenen Lohnes. Im überobligatorischen Teil dagegen hat der Staat nicht viel zu sagen. Hier ist es aus meiner Sicht wichtig, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammen den Rahmen setzen. Nehmen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Verantwortung wahr, müsste die Flexibilisierung ausgedehnt werden können. Es gibt ja Pensionskassen, die das bereits machen. Im obligatorischen Teil müssen die Leitplanken strenger sein: Ist nämlich die Altersvorsorge nicht gewährleistet, wird der Steuerzahler über Ergänzungsleistungen zur Kasse gebeten. Im Überobligatorium dagegen finde ich Flexibilität sehr gut.

Die Pensionskassen stecken in stürmischen Zeiten, auch wenn sich die Börsensituation etwas beruhigt hat. Die demografische Entwicklung und tiefe Zinsen sind zwei Stichworte. Werden die PKs – und damit wir alle – Opfer von nicht finanzierbaren Leistungsversprechen?

Die demografische Entwicklung ist keine Überraschung. Seit der Einführung der 2. Säule im Jahr 1985 wissen wir, dass die Leute älter werden. Dies muss in die Überlegungen miteinbezogen werden und deshalb sind Reserven zu bilden. Die Stiftungsräte sind dazu verpflichtet, für die demografische Entwicklung und für Zinsschwankungen vorzusorgen. Das heisst aber, dass sie gegenüber Einflüssen ihrer eigenen Klientel resistent sein müssten. Es ist zu einfach, die Probleme auf die Politik abzuwälzen. Ich bin oft an Schulungen von leitenden Pensionskassenmitarbeitenden und betone da immer wieder, dass sie die Verantwortung dafür tragen, dass die Kasse stimmt.

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Bei der letzten Abstimmung über die Senkung des Umwandlungssatzes vor ein paar Jahren blieben die Pensionskassen völlig ruhig. Genauso wie die PKs von uns Politikern erwarten, dass wir die Altersvorsorge durchziehen, erwarte ich von ihnen, dass sie ihre Beitragszahler und Rentner darüber informieren, wie die Verhältnisse wirklich sind – dass die Leute älter werden und wie sich die Renten und die Reserven entwickelt haben. Es ist die Pflicht der Pensionskassen, diese Fakten jetzt aufzuzeigen und nicht erst im Vorfeld einer Abstimmung. Sie müssen auch darauf hinweisen, dass die im Versicherungsausweis genannten Rentenzahlen nur bei den heute gültigen Bedingungen möglich sind. Gilt ein anderer Umwandlungssatz, sind diese in Aussicht gestellten Beträge nicht garantiert. Der jährliche Versicherungsausweis ist in diesem Sinn nicht ein Versprechen für die Ewigkeit, Rentenversprechen gelten nur für die nächsten ein bis zwei Jahre.

Ein Leistungsabbau scheint unausweichlich, die anstehende BVG-Revision zielt auch in diese Richtung. Wie stehen Sie zur geplanten Erhöhung des Rentenalters für Frauen auf 65 Jahre?

Das ist eine Selbstverständlichkeit. Wir haben gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Frauen werden im Schnitt vier Jahre älter als Männer und haben die gleichen Ausbildungs- und Schulmöglichkeiten. Auch wenn es in der Praxis noch nicht überall umgesetzt ist, so haben sie laut Gesetz auch den gleichen Lohn. Es gibt deshalb keinen Grund, weshalb Frauen früher in Pension gehen sollten. Als die AHV 1948 eingeführt wurde, galt für Männer und Frauen übrigens auch das gleiche Rentenalter.

Die durch die geplante Revision verursachten Mehrkosten sollen zu einem guten Teil durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer finanziert werden. Ist das der richtige Weg?

Es ist ein möglicher Weg. Allerdings müssen wir schauen, nur einen kleinen Betrag auf diese Weise zu beschaffen. Die Mehrwertsteuer ist keine soziale Steuer. Ihr Vorteil ist, dass alle mitzahlen, auch die Rentner selber. Der grosse Nachteil ist aber, dass jene Leute am meisten belastet werden, die einen grossen Anteil ihres Lohns für Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs ausgeben müssen. Das gilt vor allem für Familien mit Kindern sowie für Rentner mit geringen Einkommen. Gewerkschaftliche Kreise sind jeweils schnell bereit, Finanzierungen über die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu sichern. Im Grunde genommen treffen sie damit aber ihre Klientel am meisten. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Vorrat kommt nicht infrage. Ich denke deshalb nicht, dass die vorgeschlagenen zwei Prozent realistisch sind.

Sollten Rentner nicht bei jeder Systemänderung die Kosten zumindest in einem reduzierten Umfang mittragen?

Da bin ich vollkommen dagegen. Im vom Staat regulierten Obligatorium bleibt nichts übrig. Im Überobligatorium regelt der Staat nur die Aufsicht und die Spielregeln, während die Leistungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern festgelegt werden. Rentnerorganisationen stellen immer wieder Antrag, in den Stiftungsräten vertreten zu sein. Das wäre der grösste Fehler, den sie machen können. Wenn sie nämlich im Stiftungsrat Mitverantwortung tragen und zuständig sind, können sie auch überstimmt und letztlich dazu gezwungen werden, eine Kürzung mitzutragen. Solange die Rentner nicht in den Stiftungsräten sind, kann man ihnen die Rente nur bei den freiwillig geleisteten Teilen kürzen, zum Beispiel beim Teuerungsausgleich. Die Rente, die beim Pensionseintritt entrichtet wird, ist heute jedoch unantastbar.

Welche Entwicklung erwarten Sie im BVG-Bereich nach Umsetzung der jetzt anstehenden Revision?

Ich hoffe, dass wir die 2. Säule auf gute Beine stellen können. Dazu gehört auch eine Senkung des Umwandlungssatzes. Ich bin dagegen, den Umwandlungssatz auf Vorrat zu senken, aber ich befürworte die Schaffung realistischer Bedingungen. Mit flankierenden Massnahmen müssen wir dafür sorgen, dass es bei den Renten keine grossen Einbussen gibt. Meine grösste Sorge im Zusammenhang mit der 2. Säule betrifft indessen die Sicherheit der Anlagen. Wir haben heute rund 630 Milliarden Pensionskassenvermögen anzulegen und für solche Volumina sind die sicheren Anlagemöglichkeiten in der Schweiz beschränkt.

Wenn sie den Pensionskassen in der Schweiz einen Rat geben könnten, wie würde dieser lauten?

Die Leute in den Stiftungsräten und die Führungskräfte der Kassen so weiterzubilden, dass sie ihre Arbeit verantwortungsvoll wahrnehmen können. Und zwar nicht nur gegen innen, sondern auch gegen aussen. Ich hatte letzthin mit einer PK zu tun, die ein ausländisches Management hat. Es ist wichtig, diesen Leuten begreiflich zu machen, wie unser System funktioniert und aufzuzeigen, dass auch die Arbeitgeber Verantwortung tragen. Wir können nur auszahlen, was wirklich vorhanden ist. Fehlt in der 2. Säule Geld, ist es nicht der Staat, der Mittel beizusteuern hat. Die Verantwortlichen innerhalb des beruflichen Vorsorgesystems müssen deshalb das System transparent machen, also die wirkliche Situation nicht nur sehen, sondern gegen oben und unten weitergeben.

Zur Person
Christine Egerszegi
Ständerätin des Kantons Aargau

Christine Egerszegi-Obrist wurde 1948 geboren. Sie besuchte die neue Kantonsschule Aarau, erwarb das Primarlehrerpatent und studierte danach an den Universitäten Zürich und Lausanne Romanistik. Von 1971 bis 1996 unterrichtete sie als Sprachlehrerin an den Bezirksschulen Lenzburg und Mellingen sowie an der Wirtschaftsschule des Kaufmännischen Vereins Baden. Ihre politische Laufbahn begann 1984 bei der FDP Schweiz. Von 1989 bis 1995 war sie Mitglied des Grossen Rates Aargau. Gleichzeitig war sie von 1990 bis 1998 Stadträtin von Mellingen. 1995 wurde sie in den Nationalrat gewählt. Und im Jahr 2006/07 war sie als Nationalratspräsidentin die höchste Schweizerin. 2007 wurde sie mit einem Spitzenresultat als erste Aargauerin in den Ständerat gewählt.

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