Martin Candinas discussing
echo-Interview, Januar 2023

Die Politik muss die Gesundheitskosten in den Griff bekommen

ELIPSLIFE ECHO - EINE GESPRÄCHSSERIE MIT PERSÖNLICHKEITEN AUS WIRTSCHAFT UND POLITIK

echo-Interview mit Martin Candinas

echo-Interview mit Martin Candinas, Die Mitte, Schweizer Nationalratspräsident 2022/2023

elipsLife echo: Herr Candinas, herzlichen Glückwunsch zum Nationalratspräsidium. Welche Themen stehen für Sie während Ihrer Amtszeit im Vordergrund?
Martin Candinas:
Die Schweiz ist mit ihren vier Landessprachen und den unterschiedlichen Landesgegenden und Kulturen ein faszinierendes Land. Eine riesige Vielfalt und doch eine Einheit – das zu thematisieren, ist mir eine Herzensangelegenheit. Für mich als Rätoromanen ist es von besonderer Bedeutung, die vier Landessprachen zu leben, denn unsere grosse Vielfalt erfordert gemeinsame Lösungen. Als Nationalratspräsident habe ich deshalb das Motto „gemeinsam, ensemble, insieme, ensemen“ gewählt. Die Entstehung und Entwicklung unseres Landes mit seiner direkten Demokratie und somit das Finden von Lösungen auf einem festen Fundament stehen für mich im Zentrum. 

Welches sind aus Ihrer Sicht die grössten politischen Herausforderungen im neuen Jahr?
Sicher die Energiepolitik. Der Angriffskrieg Russlands und die allgemeine wirtschaftliche und sicherheitspolitische Entwicklung zwingen uns dazu, uns mehr Gedanken über Nutzen und Schutz bestehender und zukünftiger Massnahmen zu machen. Das Parlament hat im letzten Jahr erste Entscheide gefällt, weitere werden folgen. Wir müssen unsere Stromproduktion generell erhöhen und die Abhängigkeit vom Ausland senken. Darüber hinaus sind wir mit schwerwiegenden Fragen in der Sicherheitspolitik, beim BVG sowie bei den Gesundheitskosten und den Krankenkassenprämien konfrontiert. Auch das Verhältnis zur EU wird uns im Parlament dieses Jahr beschäftigen. 

Welche Herausforderungen bringt das Amt als Nationalratspräsident für Sie persönlich?
Als Nationalratspräsident leite ich die Sitzungen und vertrete den Rat nach aussen. Ein besonderes Augenmerk werde ich auf den gelebten Respekt und eine darauf aufbauende Debattenkultur richten – gerade in diesem Wahljahr. Die Kehrseite der Medaille ist der Teil-Verzicht auf Politik, sozusagen. Als Nationalratspräsident werde ich mich mit meiner Meinung zurückhalten und beispielsweise nicht an Debatten und Podiumsdiskussionen teilnehmen. Wer mich kennt, weiss, wie schwer mir das fallen wird. Trotzdem freue ich mich riesig auf das Amt. 

Martin Candinas explaining with hand

Als Sozialversicherungs-Spezialist sind Sie mit dem Gesundheitswesen vertraut. Seit Jahren steigen die Gesundheitskosten. Weder Ärzte, Spitäler, Krankenkassen noch Politiker scheinen sich echt darum zu bemühen. Wer hat eigentlich ein Interesse daran, die Gesundheitskosten zu senken?
Die Bevölkerung hat ein Interesse daran. Nicht zuletzt wegen der massiven Prämienrunde im letzten Oktober erwartet die Schweizer Bevölkerung griffige Massnahmen von der Politik. Klar setzen sich alle Akteure im System für ihre eigenen Interessen ein, doch die Politik muss Lösungen finden, um die Zunahme der Gesundheitskosten – eine Reduktion scheint mir illusorisch – in den Griff zu bekommen. Es gilt, die verschiedenen Player an einen Tisch zu bringen, schliesslich gehen Experten davon aus, dass im Schweizer Gesundheitswesen ohne Qualitätseinbusse Milliarden von Franken eingespart werden könnten. Wir bezahlen für die meisten Medikamente viel mehr als im Ausland und etliche Behandlungen erfolgen wegen falscher finanzieller Anreize stationär statt ambulant.

Sie sagen, die Bevölkerung hätte Interesse an tieferen Gesundheitskosten. Sobald aus Prämienzahlern aber Patienten werden, ist es mit dem Sparwillen nicht mehr weit her. Niemand will, dass ausgerechnet bei ihr oder ihm gespart wird. Sehen Sie einen Weg aus diesem Dilemma?
Im Grundsatz hat niemand ein Interesse an immer weiter steigenden Gesundheitskosten, weder die Leistungserbringer noch die Patienten. Wir müssen dafür sorgen, dass wir auch in Zukunft das beste Gesundheitswesen der Welt haben. Was heute im Gesundheitswesen nicht gut ist, müssen wir korrigieren. Kosten sind ein zentraler Faktor und die Krankenkassenprämien ein Spiegelbild der von uns allen verursachten Kosten. Wenn wir von Solidarität sprechen, sind wir auch alle gefordert, einen Beitrag zu leisten. Wir müssen die  Bevölkerung motivieren, nur jene Leistungen in Anspruch zu nehmen, die wirklich nötig sind. 

In Zusammenhang mit den Kosten im Gesundheitswesen ist oft von Fehlanreizen die Rede. Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Fehlanreiz zeigt sich bei den stationären Behandlungen. In solchen Fällen bezahlt die Krankenkasse rund die Hälfte, die andere Hälfte übernehmen die Kantone. Bei einer ambulanten Behandlung bezahlt hingegen alles die Krankenkasse. Auf diese Weise ist natürlich der Anreiz nicht gleich hoch, die Behandlung ambulant und somit kostengünstiger durchzuführen. Ein Fehlanreiz, der korrigiert werden muss. 

Die Politik reagiert mit Prämienverbilligung und setzt hierfür Steuergelder ein. Ist das der richtige Weg oder sind künstlich herabgesetzte Prämien auch ein Fehlanreiz?
Für mich ist das System der Prämienverbilligung der richtige Weg. Von den Prämienverbilligungen profitieren Menschen, die in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen leben. Deren finanzielle Belastung wird abgefedert, was einen gewissen sozialen Ausgleich schafft. Gefordert sind hier vor allem die Kantone, weil die Systeme von Kanton zu Kanton unterschiedlich ausgestaltet sind. 

Martin Candinas discussing

Nicht nur die Prämienzahler, auch die KTG- und BVG-Versicherer sind mit laufend steigenden Gesundheitskosten konfrontiert. Eine grosse Rolle spielen hierbei psychische Krankheiten, vor allem Depressionen, umgangssprachlich Burnout genannt. Laufen die Folgekosten psychischer Überlastungen am Arbeitsplatz aus dem Ruder? 
Fakt ist: diese Kosten steigen. Die Frage ist, was einzelne Unternehmen im Bereich der Prävention dagegen machen können. Nicht nur die Politik, auch die Unternehmen müssen Lösungen finden, um bei Arbeitnehmenden Burnout-Fälle möglichst zu verhindern. Vergleicht man die Präventionskosten mit den Kosten der Langzeitfolgen psychischer Überlastungen, ist das mit Bestimmtheit sehr gut investiertes Geld. Deshalb mein Appell an die Wirtschaft und an die Versicherungen, mehr in den Präventionsbereich zu investieren.

Mit dem Ja zur AHV 21 hat die Stimmbevölkerung die Finanzierung der 1. Säule für die nächsten 10 Jahre gesichert. Wo sehen Sie bei der AHV die nächsten Reformschritte?
Ich bin sehr erleichtert, dass die Stimmbürgerinnen und -bürger dieser Reform zugestimmt haben und wir nach über 25 Jahren endlich einen Schritt weitergekommen sind. Dieser Tatsache muss man sich bewusst sein, wenn man über nächste Anpassungen in der AHV verhandeln will. Wichtig ist die Schaffung von Anreizen, Leute länger im Arbeitsprozess zu behalten. Das betrifft auch die Höhe der BVG-Abzüge, die heute das Beschäftigen älterer Menschen zu wenig attraktiv macht. Viele Menschen in unserem Land würden gerne auch mit über 65 Jahren arbeiten, wenn sie denn könnten. Aber die Wirtschaft und die öffentliche Hand bieten oftmals nicht die Möglichkeit dazu. Ich erwarte hier ein Umdenken der Wirtschaftsverbände und vermehrte Anstrengungen, wie wir gute Arbeitskräfte länger im Arbeitsprozess halten können. Gerade in einer Zeit, in der alle über Fachkräftemangel klagen. 

Auch beim BVG steht eine Reform an. Der Vorschlag des Bundesrates mit dem Sozialpartnerkompromiss hatte im Nationalrat keine Chance. Der Ständerat wiederum will Personen mit tiefen Einkommen und Teilzeitpensen stärker berücksichtigen als der Nationalrat, die Beratungen laufen weiter. Welches Modell ziehen Sie vor?
Das Parlament muss eine mehrheitsfähige Lösung finden und Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigte im BVG besserstellen. Für alle ist sonnenklar, der Umwandlungssatz muss gesenkt werden. Erfolgt diese Senkung, braucht es Anpassungen für Teilzeitpensen und niedrige Löhne, die schlecht oder überhaupt nicht versichert sind. Das betrifft vor allem die Frauen. Es gilt einen Ausgleich zu finden zwischen der Anpassung des Umwandlungssatzes auf der einen Seite und der Anpassung des Koordinationsabzuges und der Eintrittsschwelle auf der anderen Seite, damit Teilzeitarbeitende und Mehrfachbeschäftigte Verbesserungen erlangen und auch in die Pensionskasse einzahlen können. Ich traue dem Parlament absolut zu, in diesem Jahr eine gute Lösung zu finden. 

Wie hoch muss das Rentenalter sein, damit AHV und Pensionskassen langfristig auf solidem Fundament stehen? 
Da gibt es eine mathematische Antwort, aber auch eine politische. Analysiert man die letzte Abstimmung, scheint mir klar, dass in den nächsten Jahren beim Referenzalter 65 kaum grössere Anpassungen möglich sein werden. Als lösungsorientierter Politiker würde ich darauf hinzielen, dass sich mehr Arbeitnehmende vom AHV-Alter 65 verabschieden, länger im Arbeitsprozess verbleiben und so den Rentenbezug aufschieben.

…also mehr Flexibilität beim Rentenalter?
Ja, mehr Flexibilität. Wobei Flexibilität in diesem Zusammenhang ein etwas gefährlicher Ausdruck ist, weil Flexibilität häufig mit der Senkung des Rentenalters nach unten ausgelegt wird. Ich sehe Flexibilität hier eher im Sinne von «Anreize schaffen», um länger im Arbeitsprozess zu bleiben. Dies bringt der AHV mehr, die frühzeitige Pensionierung dagegen belastet das System.

Zur Person
Martin Candinas
Schweizer Nationalratspräsident 2022/2023, Die Mitte

Martin Candinas, geboren 1980 in Ilanz, Nationalratspräsident 2022/23, schloss das Gymnasium an der Kantonsschule Chur mit dem Maturität Typus E ab und bildete sich an der Fachschule Südostschweiz in Chur zum Sozialversicherungsfachmann aus. Seine berufliche Laufbahn ist eng mit der Helsana Versicherungen AG verbunden, wo er seit 2001 in verschiedenen Funktionen tätig ist. Candinas ist für die Partei Die Mitte seit 2011 im Nationalrat. Im Kanton Graubünden präsidiert er verschiedene Vereinigungen und ist Mitglied in zahlreichen regionalen Stiftungsräten und Parteigremien. Auf nationaler Ebene ist Candinas Präsident der LITRA, Informationsdienst für den öffentlichen Verkehr, sowie der Swiss Helicopter Association. Zudem ist er Vizepräsident der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB). Candinas ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Chur.

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